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Text von Rosanna Dematté (scroll down for ENGLISH VERSION)

Christoph Schlingensiefs Inszenierung von Richard Wagners Parsifal wurde im Juli 2004 in Bayreuth uraufgeführt, bejubelt und verkannt, wie viele seiner Werke zuvor. Weniger bekannt ist bis heute die Reise, die der Regisseur 2003 durch Nepal und Thailand auf der Suche nach Parsifal und Kundry unternahm und von der Carmen Brucic siebzehn Jahre später in dieser Ausstellung erzählt. Die gemeinsame Recherche hatte in Bayreuth bei der Entdeckung eines Bestands hinduistischer Literatur in Wagners Bibliothek in der Villa Wahnfried begonnen, wo Carmen Brucic Schlingensief am berühmten Liszt Flügel fotografierte. Die Reiseabfolge ist den Hinweisen des Ethnomusikologen und Nepalkenners Gert-Matthias Wegner zu verdanken.

KNABENSTIMMEN aus der Kuppel
Durch Mitleid wissend,
der reine Tor:
harre sein’,
den ich erkor. (Richard Wagner, Parsifal, Erster Aufzug)

Abzug aus einem Gespräch von Christoph Schlingensief mit Gregor Gysi im ZDF über die Erfahrungen mit der Inszenierung in Bayreuth: „Ich war in Nepal, da gibt es ein Reinkarnationsfestival. (…) Da erlebt man Bhaktapur – bei Kathmandu ist das –, eine Landschaft mit 62 Ethnien (…). Das Gelände war interessant, weil ich natürlich als Katholik immer bis zum Altar laufe und dann ist Schluss, weil da irgendwie Marmor ist. Aber die laufen da durch. Sie haben über 5000 Götter. (…) Das war ein gigantisches Durcheinander an Glaubensbekenntnissen, ein Strudel an Ereignissen. Und dann die Frage der Erlösung: Da habe ich praktisch studiert, was Erlösung ist. Das hatte ich hier nicht gefunden. Wir reden zwar immer von Erlösung, die Politik will eine Erlösung, alle wollen eine Erlösung, aber ich glaube da nicht daran. (…) Ich habe nur Inszenierungen von Parsifal, die immer so christlich verschmiert waren und dann habe ich einfach gedacht, man müsste mal in was Konkretes rein, in was Spirituelles und vielleicht auch etwas Metaphysisches. Die haben aber gedacht, ich komme und mache BDM-Mädchen und Hakenkreuze auf die Bühne, dann wären sie zufrieden gewesen. (…) Aber genau das war es nicht! Es ging um Erlösung und die Frage, was ist dieses Mitleid, das der Parsifal lernen soll. Was ist das Mitleid Behinderten gegenüber? Was ist das Mitleid Jesus gegenüber? Warum hat jemand, der drei Tage am Kreuz hängt, mehr gelitten als jemand, der ein Leben lang im Rollstuhl oder als Wachkomapatient lebt, was ist da der Unterschied im Leid? Wie soll ich da überhaupt mitleiden, ich kann nicht einmal mitreden. Diese Fragen waren alle drinnen.“

Die damalige Kritik schien die neuen Zusammenhänge zu begreifen. Claus Spahn beschrieb die Inszenierung als „Bayreuther Hühnermassaker“ und „dunkles Ritual im Großstadtmüll“ (DIE ZEIT 32, 29.7.2004). Reinhard J. Brembeck schrieb Schlingensief „ein synkretistisch diesseitiges Bühnenweihfestspiel“ zu,  „das heute praktizierten Religionen in vielen Ländern jenseits der ersten Welt entspricht“, womit der Regisseur Wagners Werk „sowohl von pseudochristlicher Übertünchung, wie auch von allen aufklärerischen Versuchen, diesem Stück jede religiöse Ebene auszutreiben“ erlöste. Und doch „dieser Erlösung im Bereich der Bilder muss man, wie in jeder Religion, kritiklos und rein emotional folgen.“ (Süddeutsche Zeitung, 27.07.2004).

KUNDRY
Dich nannt’ ich, tör’ger Reiner,
“Fal parsi”, –
Dich, reinen Toren: “Parsifal”. (Richard Wagner, Parsifal, Zweiter Aufzug)

Die oben zitierten Sätze aus dem Artikel von Reinhard Brembeck bringen uns auf richtigen Pfad für eine Annäherung an Carmen Brucic‘ fotografisches Werk. Die Fotografien, die in den letzten zwanzig Jahren in Brasilien, Mexiko, Spanien, Italien, Österreich und einigen anderen Ländern entstanden sind, zeichnen einen nicht religiösen und doch die Religion berührenden Weg der menschlichen Erlösung, die von den Gegensätzen Nähe und Distanz, Liebe und Trennung, Abschied und Aufbruch versprochen wird. Ihre Arbeit charakterisiert eine unverwechselbare Poetik, die fotografische Bildausschnitte zu barocken Monumenten verwandelt. Barockartig verflüssigt sich in dieser frühen fotografischen Serie die Trennung zwischen Erde und Himmel. Der Horizont ist nur kurz zu sehen, zu Beginn der Reise: Christoph Schlingensief im Boot, vor dem Eintauchen in eine Welt, in der sich die Dimensionen durchmischen werden.

Eine Fotoreihe zeigt Schlingensief in Bhaktapur: heute beide verloren, der Mann durch seinen Tod 2010, die nepalesische Stadt größtenteils im Erdbeben von 2015. Brucic’ Fotografien bewahren den alten Zustand der Stadt und gleichzeitig ihr Potenzial als Bühne, als situationistischer Raum der Erlösung, in dem die wartenden Gläubigen, die verkörperten GöttInnen und der sich hineinreklamierende Regisseur, der den Altar durchbrechen will, Platz finden. Im ankommenden Festzug findet sich der junge Parsifal im Leopardengewand.

In ruhigeren Momenten wird für die Recherche der Blick auf andere Kinder in den Straßen Bhaktapurs wichtig – allein aufgrund ihrer Attributlosigkeit, der mangelnden religiösen Instrumentalisierung, ihrer Einzigartigkeit und Würde. Der Regisseur kehrt in der Nähe in ein Lokal ein, telefoniert in Sachen CHURCH of FEAR, der berühmten unkonventionell moralischen Aktion zum kollektiven Angstbekenntnis, welches im gleichen Jahr in Venedig begonnen hatte und in dieser Reise fortgeführt wird.

Die Tempel in Bhaktapur liefern die mögliche Bühnenarchitektur, so auch Details aus dem Tempelkomplex Swayambhunath in Kathmandu u.a. mit der Stupa und den aufgemalten Augen. Brucic’ Blick inszeniert die weiten Plätze und die Tempelanlagen Bhaktapurs wie eine Bühnenbildnerin und doch schmerzt die Erkenntnis der ephemeren Natur jedes Bildes. Vor allem der Regisseur scheint um die Verewigung der Inszenierung zu ringen. Er mischt sich in das Bild ein und wirkt doch neben den ehernen, kompositorisch sich perfekt einsetzenden Einheimischen wie ein flüchtiger Fremdkörper. Er reagiert dann sogar auf die Vergänglichkeit des Augenblicks und verewigt durch einen Hosenkauf das nepalesische Setting mit einem klassischen Stück Thomas Bernhards: Schlingensief “kauft sich eine Hose und geht mit mir essen”.

PARSIFAL
Ich sah sie welken, die einst mir lachten:
ob heut sie nach Erlösung schmachten?
Auch deine Träne ward zum Segenstaue:
du weinest – sieh! Es lacht die Aue.
Er küsst sie sanft auf die Stirne (Richard Wagner, Parsifal, Dritter Aufzug)

Eine ältere Kundry erscheint Brucic und Schlingensief in den Tagen am Himalaya, bevor die Dichte Bangkoks die Aufmerksamkeit der Reisenden vereinnahmen wird. In Thailand führt die Recherche mit Schlingensief zu einem Straßenmarkt. Hier kann nicht mehr übersehen werden, dass Schlingensief die ganze Zeit Brucic mit einer kleinen Videokamera gefilmt hat, während sie fotografierte. Diese Gewissheit geht mit dem Gefühl einher, dass noch unzählige Blickwinkel auf dieselbe Geschichte existieren sollen, mit dem Empfinden, auf einer Drehbühne zu stehen. Carmen Brucic’ Arbeit, die zum ersten Mal in einer Ausstellung zu sehen ist, beleuchtet Schlingensiefs Recherchen zu Parsifal als ein neuartiges Panoptikum, einer Vorstellung des Regisseurs, mit der er endgültig mit der Einheitlichkeit des westlichen Blickes brechen konnte.

Carmen Brucic (geb. 1972) ist sowohl als Fotografin als auch für ihre partizipativen Arbeitsmethoden bekannt. Eine fruchtvolle Verbindung von Fotografie, Theater, Inszenierung und performativer Intervention prägt ihr Schaffen. Seit 2001 verwirklicht Brucic künstlerisch-wissenschaftliche Formate zu emotionalen Themen, welche sie in verschiedenen Medien ausarbeitet. Für wichtige europäische Theater konzipierte und leitete sie einzigartige Kongresse wie „LovepangsTM. Ausrufung der liebeskranken Gesellschaft“, erstmalig an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Patz in Berlin, in dessen Rahmen sie Christoph Schlingensief kennenlernte. Ihre künstlerischen Arbeiten als Fotografin wurden bisher in Österreich, Deutschland, Slowenien, der Schweiz, Belgien, Mexiko sowie in den USA gezeigt. Sie lebt und arbeitet in Innsbruck und Gnadenwald.

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